Wasserstau: Nach Gletscherabbruch spitzt sich die Lage zu
Veröffentlicht: Donnerstag, 29.05.2025 19:49

Unglück in Schweizer Alpen
Blatten (dpa) - Nach dem Gletscherabbruch in der Schweiz spitzt sich die Lage hinter der riesigen entstandenen Geröllhalde zu: Das Flussbett der Lonza ist blockiert. Deshalb bildet sich dort ein See, dessen Pegelstand zeitweise drei Meter in der Stunde stieg. Das habe sich zwar verlangsamt, berichteten die Behörden im Lötschental am Abend. Der See breite sich nun in der Fläche aus. Sie rechnen aber damit, dass die immensen Wassermassen den See in den frühen Morgenstunden zum Überlaufen bringen.
«Ziel ist es, diesen Prozess möglichst gut zu antizipieren und die Sicherheit der Bevölkerung weiter unten sicherzustellen», sagte Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren bei einer Pressekonferenz in Ferden im Lötschental. Was genau passieren könnte, versuchen Spezialistinnen und Spezialisten nun rund um die Uhr mit Erfahrung und Computermodellen vorauszusagen.
Flutwelle oder Gerölllawine möglich
Dass eine riesige Flutwelle das Tal hinunter donnert, sei zwar nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, sagte Staatsrat Stéphane Ganzer, Mitglied der Walliser Kantonsregierung. Der Druck durch das nachfließende Wasser der Lonza sei da, insofern könnten sich die Wassermassen auch plötzlich einen Canyon durch den Schuttberg brechen. Zudem werde am Freitag oben im Tal mit 20 Grad Temperatur gerechnet. Dann schmelze der Schnee, was die Wassermengen noch erhöhe.
Nach Angaben von Studer ist aber ein Szenario wahrscheinlicher mit einem langsameren Abfluss, «dass der See sich schrittweise entleert, dass das in geordnetem Rahmen abläuft». Gut sei, dass das Gefälle am Schuttkegel eher flach ist, sagte Studer. Möglich sei auch, dass das Wasser das abgelagerte Material verflüssigt und mit ins Tal reißt. Aber auch dabei sei zu erwarten, «dass nicht allzu viel Geschiebematerial auf einmal abgeht.» Im Ort Ferden weiter unten im Tal gibt es ein Staubecken und eine Staumauer. Experten gingen davon aus, dass dort sämtliches Material aufgehalten werde.
Weitere Felsstürze möglich
Die Lage am Berg ist nach wie vor gefährlich. Zum einen drohen am Berg Kleines Nesthorn weitere Hunderttausende Kubikmeter Fels abzustürzen. Von dort waren Felsbrocken auf den Birschgletscher gestürzt, der unter der Last am Mittwochnachmittag abbrach und ins Tal donnerte. Von den gigantischen Mengen Geröll wurde ein Teil auf der gegenüberliegenden Talseite hochgeschoben. Dort drohen nun Gerölllawinen. Wie stabil der eigentliche Schuttpegel ist, weiß auch niemand. Weil darin Eis ist, könnten sich Wassertaschen bilden. Räumtrupps der Armee stehen zwar bereit, aber das Gebiet zu betreten sei noch zu gefährlich, so die Behörden.
«Die Leute haben alles verloren»
Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarweiler Wiler sprach im Schweizer Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. «Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat», sagte er. «Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat.»
Auf Drohnenbildern war zu sehen, dass ein Großteil des Dorfes Blatten unter einer meterhohen Schuttschicht liegt. Die meisten der wenigen zunächst verschonten Häuser sind von der Lonza überflutet. Die rund 300 Einwohner waren vergangene Woche in Sicherheit gebracht worden. Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet aufhielt, wird vermisst. Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1.500 Metern.
Betroffen ist auch der Weiler Ried nur einen Kilometer vor Blatten. Anwohner Daniel Ritler sagte dem Portal «20 Minuten»: «In ein paar Sekunden war die ganze Heimat kaputt.» Hof und Haus habe er auf Bildern nicht mehr gefunden. «Es sah so aus wie auf dem Mond.»
Klimawandel Grund für die Katastrophe?
Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, sagte Jan Beutel, Professor der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost sowie Klimaeinflüsse. Dennoch: «Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte», sagte er laut Mitteilung der Universität Innsbruck. «Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht – eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen.»
Durch Gletscherschmelze und schnelles Tauen von Schnee könnten Wasser und Wind das Gestein erodieren. Der Permafrost - die gefrorene Gesteinsschicht - werde immer wärmer, die Schicht, die bei Sommertemperaturen auftaue, immer tiefer. «Auftauen bedeutet aber auch, dass mehr flüssiges Wasser zur Verfügung steht – auch im Inneren des Berges – und das schmiert und fördert die Beweglichkeit, getrieben von der Gravitation», sagte Beutel.
